Freitag, 17. November 2017

Eigenverantwortlichkeit - Ein Konzept ohne Spielräume

Ausführbarkeit, Schädigungsfreiheit, Beeinträchtigungsfreiheit und Persönlichkeits-/Gesundheitsförderlichkeit. Unter diesen 4 Schlagworten kann man die Anforderungen einer humanistischen Arbeitsgestaltung zusammenfassen. Konkret geht es darum, dass ein Arbeitsauftrag überhaupt schaffbar ist, dabei weder körperlich noch psychisch Schaden beim Ausführenden anrichtet und am besten noch dazu führt, dass die Personen etwas lernen kann. Um diese 4 Kriterien zu erfüllen muss aus psychologischer Sicht einiges bei einer Stelle vorhanden sein, insbesondere Freiräume und Ressourcen. Eigenverantwortlichkeit ist ein Schlagwort, dass auf den ersten Blick impliziert, dass es einer Person Freiräume ermöglicht. Da Freiräume zur psychischen Gesundheit beitragen, sollte man also folglich Eigenverantwortlichkeit als Psychologe befürworten?

Nicht unbedingt. Eigenveranwortlichkeit im moderenen Arbeitsalltag ist nämlich häufig wenig mit Freiräumen verbunden, sondern stattdessen tatsächlich eher mit einer Einschränkung der Spielräume verbunden. Eine eigenverantwortliche Tätigkeit umfasst im Normalfall, dass ein bestimmtes Ziel, eine bestimmte Tätigkeit übertragen wird, die der Einzelne auf seine eigene Art und Weise umsetzen kann, ohne dabei zu stark von einem Vorgesetzten eingeschränkt zu werden. Grundsätzlich wäre Eigenveranwortlichkeit also tatsächlich sehr förderlich und gesundheitserhaltend für einene Menschen, da sie impliziert, dass man sich aus der fremdgesteuerten Sklaverei befreit und "sein eigener Chef" sein kann.

Ist nur leider nicht so. Damit eine eigenveranwortliche Tätigkeit gesundheitsförderlich sein kann muss sie Handlungspielräume UND zeitliche Spielräume umfassen. In der Praxis ist aufgrund zeitlicher Verdichtungen und Wachstumsdruck zumeist wenig zeitlicher Spielraum vorhanden. Übrig bleibt der Handlungsspielraum. Der Handlungsspielraum ist aber wiederum vom zeitlichen Spielraum abhängig. Wenn ich eigenverwortlich ein bestimmtes Ziel in einer sehr begrenzten Zeit verrichten muss, habe ich eben NICHT die Möglichkeit mir auszusuchen WIE ich die Tätigkeit umsetze, sondern ich bin dazu verdammt die Strategie zu wählen, die es am ehesten noch ermöglicht in der begrenzten Zeit zum Erfolg zu führen. Diese Strategien sind zumeist nicht die Strategien, die persönlichkeitsfördernd oder gesundheitsfördernd sind, sondern schlicht auf Effizienz ausgerichtet sind. Bei einer komplett auf Effizienz ausgerichteten Tätigkeitsregulation bleibt wenig Platz für soziale Kontake, Ressourcenaufbau oder auch nur Erholungszeiträumen.

Das Problem an der Eigenverantwortlichkeit ist also, dass man eigenverantwortlich, d.h. SELBST die Strategie wählt, die einen am meisten ausbeutet. Freumdgesteuerte Sklaverei wird durch eigenindizierte Sklaverei ersetzt. In einem solchen Fall kann man dann nicht mehr auf den Chef schimpfen, der einem unmögliche Methoden zumutet. An die Stelle der Attribution auf den Chef tritt die Attribution auf das eigene Selbst - man selbst ist der Versager, der die eigenverwantwortliche Tätigkeit nicht gut genug ausüben kann. Zerstört wird hier also direkt das eigene Selbstbewusstsein. Folgen sind Depressionen und Ängste.

Eigenverantwortlichkeit kann nur dann gut für den Menschen sein, wenn er SELBST über die MENGE und ZEIT bestimmten kann. Nur dann kann er auch SELBST über die METHODE entscheiden. Zusammengefasst muss in der modernen Arbeitswelt also darauf geachtet werden, dass das schöne Konzept der Selbstverantwortung nicht zur Selbstversklavung mit oben genannten Folgen wird. Wie kann das geschehen? Schritt 1 ist Widerstand. Widerstand gegen eine Verdichtung der eigenen Aufträge. Es darf nicht zu viel angenommen werden und es muss dafür gesorgt werden, dass auch weniger Aufträge angemessen entlohnt werden. Eine große Chance birgt die Digitalisierung, da durch den Einsatz modernen Informationstechnik eine Zeitersparnis erzielt werden kann, die in der Folge dann als zeitlicher Spielraum zur Verfügung steht. Wichtig: Die freigewordene Zeit darf dann nicht durch neue Aufträge gefüllt werden. Letztlich hängt es auch am Arbeitnehmer selbst: Man muss auch nein sagen können. Man muss sich selbst zugestehen, dass man die Zeit braucht.