Im Rahmen meiner Dissertation habe ich mir viel Gedanken über das Sprachsystem gemacht. Diese Überlegungen wirken letztlich auch zurück auf mich selbst und meine Vorstellungen über die Psyche. Nach dem sogenannten gebrauchsbasierten Ansatz wird Sprache in der Nutzung erworben: Der Mensch macht forwährend innerhalb einer Vielzahl von Kontexten sprachliche Erfahrungen. Hierbei zeigen sich wiederkehrende verbale Muster in bestimmten Kontexten. Durch das zunehmende Wissen um den Kontext bestimmter verbaler Codes erschließt sich mit der Zeit auch die Funktion von Wörtern und von grammtikalischen Konstruktionen. Dies wird hierbei als Emergenz bezeichnet.
Einfach gesprochen: Wenn ich zum 100. Mal das Wort "Ball" höre und dabei in der Regel ein rundlicher Gegenstand sichtbar war, ist es naheliegend aus dem Kontext zu schließen, dass das Wort Ball diesen rundlichen Gegenstand bezeichnet. Wenn ich zum 100. Mal die grammtikalische Konstruktion "Gestern habe ich x gemacht" für eine Geschichte höre, von der ich weiß, dass sie in der Vergangenheit geschehen ist, dann ist es naheliegend davon auszugehen, dass "habe gemacht" mit Vergangenheit zu tun hat. Durch den Abgleich meiner verbalen Erfahrungen, durch immer mehr Beispiele von Situationen in denen Wörter und Konstruktionen von anderen genutzt wurden oder nicht genutzt werden, kann ich Schritt für Schritt eine Sprache erfassen. Durch die Nutzung von Sprache in echten Situationen lerne ich zunehmend diese Sprache.
Moderne Sprachsoftware funktioniert vergleichbar: Durch das Einlesen großer Mengen an verbalem Material, kann mit der Zeit ein Algorithmus die "Funktion" eines Wortes lernen bzw. festellen welches Wort gerade eher passend ist und welches eher nicht. Die mathematischen Details findet sich im "Deep-Learning-Ansatz".
Faszinierend finde ich hierbei auch die Vorstellung des sogenannten extended mind. Traditionell werden mit dem Begriff Kognition in der Psychologie Gedanken und die hinter den Gedanken stehenden informationsverarbeitenden Prozesse bezeichnet. Eine Kognition ist hierbei an einen Menschen gebunden & kann nicht außerhalb von ihm sein. Bei der Vorstellung des extendend mind wird dem wiedersprochen. Das Lernen einer Sprache ist hierbei ein gutes Beispiel. Das durch und durch kognitive Sprachsystem existiert nicht nur innerhalb eines Individuums, sondern insbesondere zwischen verschiedenen Sprechern. Sprachsysteme ergeben sich durch die Kommunikationserfordernisse zwischen Sprechern. Die Kognitionen befinden sich damit auch außerhalb des eigenen Körpers.
Klarer wird das ganze wenn man Kultur betrachtet. Kultur sind geteilte geistige Vorstellungen. Wenn ich zusammen mit anderen Menschen das Oktoberfest erlebe, drücken wir uns über dieses Fest verbal aus. Die kulturelle Funktion von Dingen - und damit ihre Bedeutung - emergiert wie auch verbale Bedeutung durch wiederkehrende Muster in bestimmten Kontexten. Wir erfinden hierfür die passende Wörter. Die Sprecher einer Sprache verstehen die Kultur durch die Wörter, die mit ihren kulturellen Kontexten verbunden sind.
Unser eigenes individuelles Sprachsystem ist eingebettet in ein übergeordneten, von den Sprechern eines Kulturraum geteilten Sprachsystems. Das geteilte Sprachsystem beeinflusst uns eigenen Sprachsystem (weil wir sonst nicht mit anderen kommunizieren könnten). Unser eigenes Sprachsystem beeinflusst aber auch das geteilte Sprachsystem - denn durch neue oder veränderte Kommunikationserfordernisse zwischen einzelnen Sprechern müssen Wörter neu erfunden oder neu gedeutet werden. Wenn für genügend Sprecher mit "Telefon" nicht mehr ein kabelgebundenes Gerät im eigenen Haus gemeint ist, sondern das Smartphone in der eigenen Hosentasche, dann geht diese Veränderung auch ins übergeordnete System über.
Weiter gesponnen kann eine solche Hierarchie von Systemen auch außerhalb von Sprachsytemen beobachtet werden. Ein Lebewesen ist ein System, das aus kleineren Systemen - Organen - besteht, die wiederum aus kleineren Systemen - Zellen - besteht, usw.. Gleichzeitig ist ein Lebewesen in ein größeres System - eine Gesellschaft oder die Natur - eingebettet. Der Geist ist ein System, das aus vielen kleineren geistigen Systemen besteht, die wiederum aus kleineren geistigen Systemen bestehen. Gleichzeitig muss der Geist sich an die externe Umwelt - also die äußeren Systeme - anpassen und ist damit gewisserweise wiederum ein Subsystem größerer Systeme, die alle miteinander interagieren.
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